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Aufbrüche in Umbrüchen - von Cornelia Coenen-Marx

„Eigentlich bin ich ja gar keine Demo-Type. Aber es kann doch nicht einfach immer so weitergehen“, schrieb eine Freundin auf Facebook und postete Plakate zum Klimastreik. „Wenn wir nichts ändern, läuft uns die Zeit davon“, schrieb eine andere. <br /><br />Die beiden gehen fürs Klima auf die Straße, andere engagieren sich bei „Omas gegen rechts“, wieder andere wissen mit ihrer Wut nicht, wohin. Klar ist nur: Wir sind mitten in einem Paradigmenwechsel – nicht nur beim Klima. Weiter-so ist keine Option. Wir brauchen einen neuen Aufbruch.
Cornelia Coenen-Marx
Datum:
23. Okt. 2021
Von:
Hanno Sprissler

„Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.“ So beginnt einer meiner Lieblingstexte, Franz Kafkas Parabel „Der Aufbruch“. Wohin er reitet, weiß der Erzähler nicht. „Nur weg-von-hier – das ist mein Ziel‘“, heißt es.


Nicht jeder hört den Trompetenton in der Ferne. Die Verheißung, die zum Aufbruch lockt. Die innere Stimme, die uns neue Wege zeigt. Ich denke an Abraham unter dem Sternenhimmel, der die Stimme hört: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“. Und an Mose, der am brennenden Dornbusch die Verheißung empfängt: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen … und ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und sie in ein schönes, weites Land zu führen – ein Land, in dem Milch und Honig fließt.“


Eine andere Welt ist möglich, auch wenn sie noch ganz unvorstellbar ist. Das meinen wir Christinnen und Christen, wenn wir vom Reich Gottes reden. Von einer Welt, in der Menschen einander keine Gewalt antun – weder körperlich noch psychisch. Wo Macht die anderen nicht klein macht. Wo wir geschwisterlich miteinander umgehen und die Kleinen und Schwachen in die Mitte stellen: die Kinder, die Verletzlichen, die auf andere angewiesen sind. Wo Tränen getrocknet werden und Gerechtigkeit Zusammenhalt schafft.


Eine Utopie? Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Neue schon angebrochen ist: Wir sitzen an einem großen Tisch und feiern. Ein Gospelchor singt „This little light of mine“ und ich sehe das Leuchten in den Gesichtern. Ein Bischof hat den Mut, ein Tabu anzusprechen und sich selbst in Frage zu stellen. Eine Katastrophe stürzt viele ins Unglück, aber Tausende machen sich auf, um zu helfen. Manchmal trifft es mich direkt ins Herz: Gottes Geist hat Stimme und Gesicht. Wie Kafkas Trompetenton, den der Diener merkwürdigerweise gar nicht gehört hat. Aber wir können nicht warten, bis alle bereit sind, bis alle mitgehen. Wir müssen der Verheißung folgen, wenn sie uns anspricht.


Es wird kein Spaziergang, wir ahnen es schon. Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Welt steckt voller Zumutungen – zu selten wird darüber offen gesprochen. Und der Weg zur Veränderung der Kirchen birgt jede Menge Zündstoff – es geht um Macht und Einfluss, um Ressourcen und Mitsprache. Nicht wenige resignieren, wenn sie sich klar machen, was noch auf sie zukommt. Mich tröstet, dass es Mose damals nicht anders ging. Er hatte Angst, zum Pharao zu gehen und um Freiheit zu bitten für sein Volk. Am Ende brauchte er Aaron an seiner Seite – allein hätte er es nicht geschafft. 


Das weiß auch Kafka. Als der Diener in der Geschichte fragt, wie es denn mit Proviant aussieht, da antwortete der Aufbrechende: Es lohnt sich nicht, Proviant mitzunehmen, der Weg ist zu lang. Wer auf dem Weg nichts zu essen bekommt, der muss ohnehin verhungern. „Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“ Ich denke daran, wie das Volk Gottes aus Ägypten auszieht: durch das Rote Meer, durch die Wüste – jahrelang, jahrzehntelang. Die Vorräte, die sie mithatten, waren schnell aufgebraucht. Jetzt sind sie sie auf die Alltagswunder angewiesen: Wasser aus einer Felsquelle, Wachtelschwärme, die sich niederlassen. Beeren von unbekannten Sträuchern. Ich will nicht verschweigen, dass sie oft genug zweifelten und auch verzweifelten. Dass sie den Aufbruch abbrechen wollten und sich einredeten, man hätte doch einfach so weitermachen können. Aber das ist nicht wahr. Ein Weiter-so ist nicht möglich. Wir müssen auf unsere Sehnsucht hören.

Cornelia Coenen-Marx

Cornelia Coenen-Marx

Oberkirchenrätin a.D., ist Inhaberin der Agentur „Seele und Sorge“ (www.seele-und-sorge.de). Sie war bis 2015 als Referatsleitung Sozial- und Gesellschaftspolitik der EKD u.a. Geschäftsführerin der Kammer für Soziale Ordnung und mehrerer Ad-hoc-Kommissionen zu Gesundheits-, Familienpolitik und Inklusion. Sie bringt unterschiedliche Erfahrungen aus Gemeinde- und Quartiersarbeit, sowie aus der Geschäftsführung des Diakonischen Werks Rheinland mit und war als Landeskirchenrätin der rheinischen Kirche für Öffentliche Verantwortung zuständig. Von 1998 bis 2004 war sie Vorstand der Kaiserswerther Diakonie, ehe sie 2004 zur EKD wechselte. Coenen-Marx ist Autorin verschiedener Sachbücher, Artikel und Rundfunksendungen z.B. „Die Seele des Sozialen“, „Aufbrüche in Umbrüchen“ … und zuletzt „Die Neuentdeckung der Gesellschaft“.

Termin-Tipp:

Am 27.11.21 wird Coenen-Marx um 20.00 Uhr in St. Nikolaus einen Vortrag über „Aufbrüche in Umbrüchen“ als Auftakt der „Woche des Glaubens“ halten. Vor dem Vortrag besteht die Möglichkeit um 18.30 Uhr an einer Vigil teilzunehmen.