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Kirche – gehen oder bleiben?

Wir zeigen die Entwicklung der Mitgliedszahlen und lassen zwei Menschen mit unterschiedlicher Haltung zu Wort kommen.
Wofür entscheiden Sie sich?
Datum:
21. Okt. 2021
Von:
Katja Fischborn und Victoria Sonntag
Kirchenaustritte in Köln (evangelisch und katholisch)

Gefühlt möchten immer mehr Menschen raus aus der (katholischen) Kirche, „den Verein verlassen“, „mit meinem Steuergeld das nicht auch noch unterstützen.“ Es gibt ohne Frage mehr als nur Diskussionsbedarf bei zahlreichen Themen. Eine tiefe Vertrauenskrise ist zudem durch die verstärkt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle und den Umgang mit dem ersten Gutachten dazu entstanden. 

Passend zu den sogenannten Corona-Wellen gibt es nun also Austrittswellen. Manche reden nur darüber, viele treten aber tatsächlich aus. Dafür ist eine persönliche Vorsprache beim Amtsgericht, in dessen Bezirk der Wohnsitz liegt, nötig und eine Gebühr von 30 Euro fällig. Übrigens muss man dafür nicht volljährig sein, sondern kann dies ab dem 14. Geburtstag selbst entscheiden. 

In Köln waren die online angebotenen Termine im Zehn-Minuten-Takt rasend schnell vergeben, obwohl das Amtsgericht die Zahl wegen der hohen Nachfrage seit Januar von zunächst 600 auf schließlich 1800 im Monat erhöhte. Immer zu Beginn eines Monats werden neue Termine freigeschaltet – nachdem diese zunächst bereits Stunden später ausgebucht waren, entspannte sich inzwischen die Lage etwas und freie Zeiten waren auch noch einige Tage später zu ergattern. Doch noch immer färbt sich der Online-Kalender des Amtsgerichts komplett rot – alles ausgebucht. 

Zwischenzeitlich haben einige Kölner*innen den Schlussstrich sogar über einen Notar erklärt, obwohl das Prozedere teurer ist. So dringend und wichtig scheint es ihnen zu sein. 

Und es scheint auf ein trauriges Hoch hinauszulaufen: In den ersten beiden Quartalen 2021 zählte das Amtsgericht in der Stadt 9004 Austritte, knapp 80 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2019 – dem bisherigen Rekordjahr mit insgesamt 10.100 Austritten. 2020 waren es vermutlich coronabedingt deutlich weniger. Allerdings unterscheidet das Amtsgericht nicht zwischen den Konfessionen. 

Die Entwicklung im Erzbistum 

Kirchenaustritte in St. Nikolaus und St. Bruno

Einen richtigen Trend zur Flucht aus der katholischen Kirche lässt sich aus der Statistik für das Erzbistum Köln (noch) nicht herauslesen: Zwar wurden 2019 mit über 24.000 und 2020 mit über 17.000 deutlich mehr Ausgetretene registriert, doch hat es auch schon 1995 und 2014 Jahre mit hoher Quote gegeben. Noch fehlen die Zahlen für 2021, die aber vermutlich analog zu denen des Amtsgerichts aussehen werden. Auch vor unserer Haustür im Seelsorgebereich von St. Nikolaus, St. Bruno und Karl Borromäus waren es im September knapp 7 Prozent oder ca. 1000 Kirchenmitglieder weniger als noch vor einem Jahr.

Viele verlassen auch die evangelische Kirche

Laut Statista war die Anzahl der Austritte aus der katholischen Kirche deutschlandweit zuletzt 2006 mit 84.389 relativ gering. Mit leichten Schwankungen stieg diese Zahl wieder. Im traurigen „Rekordjahr“ 2019 wurden dann 272.771 Austritte verzeichnet. Die Statistik seit 1992 zeigt aber ebenfalls, dass in fast jedem Jahr sogar mehr Menschen nicht mehr zur evangelischen Kirche gehören wollten. Im Jahr 2020 herrschte fast Gleichstand: Da kehrten ihr über 220.000 Gläubige den Rücken, der katholischen Gemeinschaft ca. 221.000.

Drinbleiben: Tino Vollmar aus Sülz

Tino Vollmar

Austreten aus der Kirche kommt für Tino Vollmar aus Sülz trotz der derzeitigen Diskussion um Verfehlungen und den Missbrauchsskandal nicht infrage. Er teile die Kritik an der Kirche als Institution und an Kardinal Woelki in keiner Weise, sagt der 41-Jährige. „Aus meiner Sicht wird da jemand an den Pranger gestellt.“ Das sogenannte Missbrauchsgutachten, das Woelki in Auftrag gegeben habe, nenne klar Ross und Reiter. Aus seiner Sicht würden viele gegen den Kardinal Stimmung machen, weil er dem synodalen Weg kritisch gegenüberstehe.

Dieser steht für einen Dialog innerhalb der katholischen Kirche, der das verlorengegangene Vertrauen der Menschen in die Institution Kirche wiederherstellen soll. Schwerpunktthemen sind neben der Sexualmoral unter anderem auch Machtverhältnisse und die Rolle von Frauen in der Kirche.

Tino Vollmar lebt mit seiner Familie in Sülz und findet das breite Angebot von St. Nikolaus toll. Seine Gottesdienstbesuche hätten viel mit der Person des jeweiligen Pfarrers zu tun, das sei eine persönliche Vorliebe. Nachdem er katholisch sozialisiert aufgewachsen, zur Kommunion gegangen und als Messdiener aktiv gewesen sei, habe er sich dennoch erst vor wenigen Jahren, dafür aber ganz bewusst, firmen lassen. Er sieht Kirche als äußerst wichtig an: „Individualisierung nimmt zu, da kann die Kirche Halt und Struktur geben.“ Sie lehre, auf sich selbst zu achten, aber auch für andere da zu sein. Dass für die Arbeit eine Kirchensteuer erhoben werde, findet er „wichtig und richtig.“

„Es hat sicher einzelne Verfehlungen und schweren Missbrauch gegeben“, benennt er klar. Aber auch in anderen Institutionen wie Sportvereinen, Schulen und auch der evangelischen Kirche seien schreckliche Fälle von sexuellem Missbrauch bekannt geworden, aber aus seiner Sicht werde die katholische Kirche besonders hart verurteilt. Diese habe natürlich eine hohe moralische Verpflichtung, aber die derzeitige Diskussion vermenge gerade mehrere Aspekte. Dazu werde eine mediale Kampagne auch gegen die Person Woelki gefahren: Daniel Deckers, Redakteur bei der F.A.Z. für die Berichterstattung über die katholische Kirche, habe den Kardinal scheinbar „zum Abschuss freigegeben.“ Tino Vollmar findet: „Gerade jetzt ist es wichtig, einen klaren Blick zu behalten.“

Synodaler Weg

Der Synodale Weg ist ein Gesprächsformat für eine strukturierte Debatte innerhalb der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Er soll der Aufarbeitung von Fragen dienen, die sich im Herbst 2018 nach der Veröffentlichung der MHG-Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche ergeben haben. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken tragen gemeinsam die Verantwortung für den Gesprächsprozess. Mehr Infos

Austreten: Angela Dahl

Angela Dahl

Einen anderen Weg hat Angela Dahl eingeschlagen. Monatelang sei sie mit der Entscheidung „schwanger gegangen“, ob sie angesichts der aktuellen Entwicklungen in der katholischen Kirche bleiben solle oder nicht. Die Entscheidung sei ihr schwer gefallen. Sie sei katholisch sozialisiert, habe in ihrer Jugend in einer engagierten Pfarrgemeinde Kirche als offenen Ort erlebt. 

Die Skandale sexualisierter Gewalt an Minderjährigen innerhalb der katholischen Kirche und vor allem ihr Umgang damit brachten Angela Dahl dazu, sich intensiver und bewusster mit der Kirche als Institution auseinanderzusetzen. Insbesondere das Verhalten von Kardinal Woelki, die fehlende Transparenz in der Kommunikation seien für sie unverständlich und zuletzt unerträglich gewesen. Gerade die Kirche habe doch eine Vorbildfunktion. Anstatt Dokumente zur Aufklärung zurückzuhalten und Dinge schön zu reden, hätte sie sich einen offenen Umgang und eine demütige Haltung der Kirchenvertreter gewünscht. 

„Das Positionspapier der KHG würde ich so unterschreiben“, fügt sie hinzu. In diesem Dokument hatten die Mitarbeitenden der Katholischen Hochschulgemeinde an der Berrenrather Straße im Mai 2019 für eine offene Kirche plädiert und sich kritisch gegenüber der Haltung des Erzbistums Köln geäußert. Das Erzbistum reagierte mit der zwischenzeitlichen Abschaltung der Homepage der KHG sowie des Verbots einer weiteren Veröffentlichung des Papiers. 

Den letzten Ausschlag für ihren Kirchenaustritt im Mai habe dann das Nein aus Rom gegeben, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen. „Die katholische Kirche geht nicht mit der Zeit“, sagt die 53-Jährige. Anstatt zuzuschauen, wie gerade junge Leute der Kirche den Rücken kehrten, sollte sich die Kirche ernsthaft bemühen, diese ins Boot zu holen.

Die Erstkommunionvorbereitung ihrer Tochter in St. Nikolaus vor einigen Jahren hatte Angela Dahl als Gelegenheit angenommen, nach langer Zeit wieder eine Heimat in einer Kirchengemeinde zu suchen. Sie nahm diese Zeit zum Anlass, aktiv am Gemeindeleben teilzunehmen, z.B. kochte sie für die Kinder im Ferienprogramm „Ferien zu Hause“. Die offene und engagierte Messdiener*innenarbeit schätzt sie besonders. „Ich fühle mich durch mein Kind als „wiedererwachte Aktive“, beschreibt sie ihre Situation. Auf Gemeindeebene sieht Angela Dahl durchaus, dass sich etwas bewegt. Aber es reiche nicht, alles gehe sehr langsam. „Als Maria 2.0 (siehe Infokasten) entstand und viel in der Presse war, gab es im Gottesdienst in St. Nikolaus eine Fürbitte für Frauen, die sich engagieren“, berichtet Angela Dahl. Die Tatsache, dass es „nur“ eine Fürbitte war und eben keine Stellungnahme oder Einladung zur Debatte erfolgte, fand sie „ein bisschen wenig“. „Meine Tochter ist Messdienerin. Was sage ich ihr, wenn sie den Wunsch äußern würde, Priesterin zu werden?“ 

Trotz des synodalen Weges (siehe Infokasten), den sie grundsätzlich befürwortet, bleibt Angela Dahl pessimistisch: Kleine „Reförmchen“ würden wenig bewirken. Und sie glaube nicht, dass es zu tiefgreifenden Modernisierungen kommt. „Auch die Deutsche Bischofskonferenz ist sich nicht einig. Es geht viel um Macht.“

Ihr Austritt aus der katholischen Kirche richte sich nicht gegen ihre Kirchengemeinde St. Nikolaus. Ihre bewusst nicht gezahlte Kirchensteuer wolle sie direkt in die Kinder- und Jugendarbeit der Pfarrgemeinde in Sülz spenden. „Mit meinem Austritt möchte ich ein Zeichen setzen. Nicht mehr und nicht weniger. Für mich war das keine Glaubensentscheidung, sondern eine politische Entscheidung."

Maria 2.0 

Aus einer Aktionswoche in Münster, bei der Frauen zu einem „Kirchenstreik“ aufriefen, ist mittlerweile eine bundesweite Protestbewegung geworden. Die Forderungen an die Amtskirche sind u.a. die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die schonungslose Aufklärung sexuellen Missbrauchs, die Aufhebung des Pflichtzölibats. Mehr Infos