Nähe durch Distanz - Distanz durch Nähe
Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe (Ps 22,12a)
Für ein kleines Kind ist ein liebevolles Lächeln, die zärtliche Berührung und Begegnung, die physische und psychische Wärme eines Menschen lebensnotwendig. Ohne liebende Zuwendung entwickeln Kinder Hospitalismus. Nur mit dieser wohltuenden Nähe kann ein neugeborener Mensch die Rezeptoren im Gehirn ausbilden, an die sich die für das Wohlbefinden verantwortlichen Hormone andocken. Andernfalls entstehen überwiegend Sinneszellen für Stresshormone. Bei einem vollständigen Mangel an menschlicher Zuwendung stirbt der kleine Mensch. Auch für Erwachsene ist Isolation eine Folter. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Niemand kann dauerhaft alleine leben, ohne liebende Zuwendung von anderen und für andere: ein Lächeln, eine zarte Berührung, ein Streicheln, ein verständnisvolles Wort, ein wohlwollender, persönlicher Gedanke.
Nahe gekommen sind heimtückische Verfolger, sie haben sich weit entfernt von deiner Weisung. (Ps 119,150)
Zu viel menschliche Nähe hingegen führt zu Enge, Platzangst, Bevormundung, Einschränkung des freiheitlichen Gefühls, Autonomieverlust. Der persönliche Raum, den jeder Mensch um sich herum - ganz körperlich aber auch emotional - benötigt, ist nicht nur individuell, sondern auch kulturell unterschiedlich. Bewusst kann ich andere mit zu großer und zu schneller, intensiver Nähe verunsichern oder schwächen. Das wissen nicht nur Verkäufer und Psychologen: der etwas zu lange Blick oder Händedruck, die Berührung von Schulter oder Arm … oder auch die Nähe in der vollen Bahn, das Unterschreiten des persönlichen Mindestabstands, das ungefragte Betreten der Wohnung, des Büros, der zu lange Besuch, der nicht abgesprochene Termin, das wie selbstverständliche Nehmen.
Bin ich nur ein Gott aus der Nähe und nicht auch ein Gott aus der Ferne? (Jer 23,23)
Distanz aber kann auch sehr heilsam sein. Im Rückblick können wir vieles besser oder überhaupt erst verstehen. Im Rückzug, beim Alleinsein, nach dem Drüberschlafen können vernebelnde, aufwallende, spontane Gefühle abebben und Klarheit bekommt wieder Raum. Eingefahrenes, Festgefahrenes wird nach Monaten und Jahren erkennbar, Abhängigkeiten werden spürbar, aber auch Gutes, Liebgewonnenes, Wesentliches, das vorher selbstverständlich erschien, weil es eben immer da war und nie fehlte: nach der Reise oder der Auszeit, nach dem Streit, durch die Trennung, den Abschied, den Tod.
Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht? (Jes 43,18-19)
In der Distanz kann auch Neues entstehen und wachsen. Das eingepflanzte Samenkorn keimt und wächst in meiner Abwesenheit. Es nützt dem Samen und mir nichts, wenn ich daneben sitzen bleibe und warte, was passiert. Das Einzige, was ich tun kann, ist einen für das Wachstum günstigen Rahmen zuschaffen. Nur durch das Loslassen und Überlassen kann ich selbst Gelassenheit finden und dem, was wachsen kann und will, eine Chance geben. Hier schafft emotionale Distanz Nähe, denn ich lasse das Gesäte ja nicht allein und überlasse es sich selbst, sondern ich hoffe auf Wachstum und Veränderung, denen ich die Möglichkeit dazu einräume: bei der Erziehung der Kinder, die immer mehr eigene Wege gehen, im Sterben lassen von überalterten Strukturen und Angeboten, im ehrlichen und offenen Wort, das ich zu meinem Nächsten spreche, im Lächeln für ein kleines Kind und für die Menschen, die mir begegnen.