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Angst

Wir alle haben Angst. Manchmal, oft, immer. Angst lähmt, macht krank oder spornt zu Höchstleistungen an. Was genau ist Angst? Wie funktioniert sie? Gibt es ein Leben ohne Angst?
Datum:
6. Sep. 2017
Von:
Julia Greipl

Ich stehe am Bahnhof. Der Zug macht Zuggeräusche, aber in meinen Ohren werden sie zu einem Getöse. Ich merke, wie mein Herz immer schneller klopft. Einatmen, ausatmen, ich kriege keine Luft mehr. Der Zug bleibt stehen, ich halte mich an den Türgriffen fest, ziehe mich hoch, alles dreht sich. Mir wird sehr heiß, etwas Kiloschweres drückt auf meine Brust. Da reiße ich meine Tasche an mich und springe heraus. Ich stehe wieder auf dem Bahnhof, bin einen kurzen Moment erleichtert. Dann beginnt die Verzweiflung. Sie rollt über mich.*

Was ist eigentlich Angst? Meist wird das Wort hergeleitet aus dem Lateinischen „Angustia – Enge“. Es ist das deutlichste Gefühl, das sich beim Empfinden von Angst im Brustkorb einstellt. Dabei unterscheidet man zwischen angeborener Angst, der Phobie – zum Beispiel vor Spinnen –, und der aus Lernerfahrung entstandenen Angst, dem Respekt, beispielsweise vor der heißen Herdplatte. Weder Phobie noch Respekt sind krankhaft – im Gegenteil, sie schützen vor Gefahren, ihre Symptome sind die natürliche Reaktion auf Bedrohungen. Unsere Vorfahren waren Angsthasen, nämlich diejenigen, die vor hohen Höhen zurückgewichen und aggressiven Tieren aus dem Wege gegangen sind. Nur sie konnten sich fortpflanzen. Zweifellos: Ohne Angst ist Überleben nicht möglich.

Wer hat Angst? Kinder haben zunächst nur dann Angst, wenn sie Phobien, also angeborene Angst haben. Das gefährdet sie natürlich, weil insbesondere sie Gefahrensituationen ausgesetzt sind, vor denen sie die typischen Angstgefühle nicht schützen können. Im Laufe des Lebens nehmen dann oft die Ängste zu und erreichen ihren Höhepunkt bei Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Ältere Menschen sind wieder weniger ängstlich, trotz – oder gerade wegen – ihrer Lebens- und Lernerfahrung.

Wann wird Angst zur Krankheit? Der Übergang ist oft fließend, äußert sich möglicherweise in einer sehr zeitintensiven Auseinandersetzung mit der Angst, in der versuchten Bekämpfung mit Alkoholika oder ähnlichem und in der alles beherrschenden Vermeidung von Konfrontation mit Angst. Auch in Zweifelsfällen sollte immer ein Psychiater oder Psychologe konsultiert werden. Er wählt meist die Konfrontationstherapie, bei der der Patient sich immer wieder behutsam mit dem Gegenstand seiner Ängste auseinandersetzen soll. 

Und helfen? Es ist schwer zu helfen. Es gibt niemanden, den gescheiterte Hilfeversuche nicht irgendwann frustrieren. Und es gibt kaum etwas Schlimmeres für jemanden, der an Angst leidet, als die naheliegenden Hinweise: Entspann Dich doch. Mach dir nicht so viele Gedanken.

Ein Leben ohne Angst scheint nicht möglich, auch wenn immer noch nicht geklärt ist, warum es mehr und weniger ängstliche Menschen gibt. Vielleicht ist die Stärke des Angstempfindens auch einfach nur genauso verteilt wie andere Körper- und Wesensmerkmale. Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob der angstfreie Mensch ein wünschenswertes Ziel sei. Dazu sagte Mitscherlich Mitte der 1970er-Jahre: „Ich habe das Gefühl, dass Menschen sich durch Angstsituationen sehr näherrücken, und dass dabei dann oft Hindernisse, die zwischen ihnen sind, fallen, und dass tatsächlich, wie man vielleicht mit aller Vorsicht sagen kann, der Mensch ohne Angst ärmer wäre.“ Der dänische Theologe Sören Kierkegaard war rund 150 Jahre vorher noch deutlicher. Er betrachtete die existenzielle Angst als Wesensmerkmal menschlichen Denkens und der Willensfreiheit. In der Antike begriffen Platon und Aristoteles hingegen Angst noch primär als physische Reaktion, die sich auf konkrete Objekte bezieht. In Aristoteles‘ Betrachtungen über die Seele kommt daher die Angst auch gar nicht vor.

Es gab Momente, da dachte ich, ich wäre der Angst fast entkommen. Tage in Freiheit, in denen ich mich nicht ständig mit Angstlogistik und Planung beschäftigte. Aber dann kam sie wieder einfach aus dem Nichts. Mal von einer Sekunde auf die andere. Mal schleichend. Ich habe meine Strategien, Krücken, mein Netz. Die jahrelange Übung. Es ist nur so: Angst ist kaum zu verstehen für jemanden, der sie nicht empfindet.

* In Ausschnitten dem Protokoll einer Angstpatientin entnommen (www.welt.de/angst/reportage)