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Aufbruch!

Mitten im Ersten Weltkrieg, als sich abzeichnete, dass er für Deutschland zu einem Trauma geraten würde, schmiedete ein Architekt und Designer an der Westfront Pläne für die Zukunft. Dreißig Jahre und einen weiteren Krieg später, mitten in den noch sichtbaren Trümmern, drehten sich die ersten Kräne, und ganze Städte erfanden sich mit modernen Bauten neu.
Zugvögel symbolisieren für viele Menschen den Aufbruch
Datum:
24. Sep. 2019
Von:
Julia Greipl

2019 war das Jahr, in dem besonders viel der zahlreichen Auf- und Ausbrüche des vergangenen Jahrhunderts gedacht wurde. 1919 gründete Walter Gropius das „bauhaus“, die Schule für Kunst, Handwerk und Architektur. Und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das geplant, was heute als „Architektur der fünfziger Jahre“ wahlweise gehasst oder mittlerweile wieder geschätzt wird. Zumindest aber werden die Bauten der zwanziger und der fünfziger Jahre meist als das wahrgenommen, was sie im Wesentlichen auch sind: Zeichen des Aufbruchs. Aufbruch in ein neues (Zusammen-)Leben, in eine neue Zeit, in der man Krieg, Hass und Willkür für überwunden hielt.

Wie kommt es zum Aufbruch, was kennzeichnet die Umstände unmittelbar davor? Tatsächlich ist ja „Aufbruch“ etwas grundlegend anderes als „Entwicklung“. Natürlich, vom Ende her gedacht, eint beide Begriffe viel, denn am Ende steht die Veränderung. Durch Aufbrechen ebenso wie durch Entwickeln entsteht etwas Neues, verändern Menschen sich selbst und ihre Umgebung. Aber der Impuls ist ein anderer. Während mit „Aufbrechen“ eher ein (Neu-)Beginnen gemeint ist, steht „Entwickeln“ mehr für das allmähliche Verändern. Aufbruch ist radikal, manchmal sogar brutal – beim Wortbestandteil „Bruch“ denken wir selten an Harmonie und Eintracht. Entwicklung hingegen bezeichnet vielmehr Heranbildung, Entfaltung und Wachstum.

Wenn wir aufbrechen, lassen wir Altes hinter uns. Bewusst – wir versuchen erst gar nicht, das Vorhandene zu verändern, weiterzuentwickeln, sondern wir suchen Neues, brechen aus. Oft nach Streit, Niederlagen, Verlust oder eben Krieg. Die Architekten des Bauhauses konnten dem Städtebau, den sie kannten, nichts mehr abgewinnen. Sie erdachten eine neue Lebenswelt mit menschengerechtem Wohnen. Der Zweite Weltkrieg dann hatte fast eine Art „Tabula rasa“ geschaffen, insbesondere ja in Köln, und die Frage war: Wiederaufbau oder Neubau, wobei Neubau das eindrücklichere Zeichen für Aufbruch ist. Positiv und optimistisch, so wie es auch die leichten, luftigen, oftmals wagemutigen architektonischen Konstruktionen ausstrahlen.

Radikaler Neustart

In unserer Gemeinde gibt es ein bemerkenswertes Beispiel für den gebauten Neubeginn: Die Kirche Hl. Johannes XXIII., die Kirche der katholischen Hochschulgemeinde Köln. Die ersten Besucher waren noch geprägt von der Bunker-Erfahrung des Krieges und empfanden die Krypta, vielleicht mehr noch als wir heute, als eine Art schützender Höhle. Aber in dieser Höhle fängt auch etwas neues an: Ein Baum, der in der Krypta wurzelt, dessen Stamm den Hauptkirchenraum strukturiert und dessen Geäst die Dachkonstruktion bildet. Das alles freilich in kantigen Formen und aus Beton, dem Baustoff, der wie kaum ein anderer den architektonischen Aufbruch erst möglich gemacht hat. Und gleichzeitig hat ihn das Zweite Vatikanische Konzil nötig gemacht. Von 1962 bis 1965 waren Bischöfe aus der gesamten Welt in Rom zusammengekommen, um die pastoralen Leitlinien der katholischen Kirche neu zu bestimmen. Und dann folgten Neuerungen in einem nie dagewesenen Ausmaß: Die Gläubigen, bisher nur Zuschauer der Handlungen der Priester, sollten nun aktiv und gemeinschaftlich an der Messe teilnehmen. Denn Christus sei nicht nur in den geweihten Gaben und im Priester gegenwärtig, sondern auch in der versammelten Gemeinde. So rückte die Gemeinde an den Altarraum heran, und die Zeiten, in denen der Priester wie auf einer Bühne mit dem Rücken zu den Gläubigen stand, waren vorbei. Die Kirchen, die dann entstanden, verkörpern diese Aufbruchstimmung, sie überwinden jahrhundertealte Strukturen. Ihre Räume und die verwendeten Baumaterialien wirken noch heute radikal.

Mut zum Aufbruch

Denn jeder Neustart ist radikal. Zumindest im Ergebnis. Aktuell, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Vatikanum, stehen wir mit Kirche wieder vor einem Aufbruch. Er wird nötig, weil unsere Form von Kirche heute an vielen Stellen nicht mehr mit der aktuellen Lebensrealität der Menschen zusammenpasst. Das zeigt sich am deutlichsten an der zurückgehenden Zahl derer, die regelmäßig die heilige Messe mitfeiern und die Sakramente empfangen. Es gibt bereits einzelne Initiativen und Versuche, den Glauben neu in das Heute zu übersetzen. Wenn dann Gottesdienste im ICE, Fußballstadion oder Rotlichtviertel gefeiert und gleichzeitig Kirchen zu Kletterhallen, Buchhandlungen oder Hotels werden, dann ist das extrem, aber eben auch konstruktiv und notwendig.

Aufbruch radikal und gleichzeitig kreativ gestalten – eine Aufgabe, deren Reiz und Gelingen schon im ganz Kleinen beim Kintsugi sichtbar wird. Kein Schreibfehler, sondern die jahrhundertealte, in Japan und Korea verbreitete Technik der Goldreparatur, bei der man gar nicht erst versucht, Zerbrochenes unsichtbar wiederherzustellen, sondern die Bruchstellen deutlich und kunstvoll mit Blattgold veredelt. Diese Technik, diese Geisteshaltung, trifft bei uns gerade einen Nerv. Und es ist vielleicht genau dieser Nerv, der jetzt sehr viele Menschen dazu bringt, auch aufzubrechen in ein neues, klimaschonendes Leben und aus alten Gewohnheiten auszubrechen. Das sollte auch der Kirche Mut machen. Mut, aufzubrechen.