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Tatsächlich… Nächstenliebe?

Wir spenden, wir teilen, wir reichen Hände – aber warum helfen wir eigentlich? Was ist unsere Motivation? Hat Hilfe etwas mit Liebe zu tun?
Datum:
4. März 2020
Von:
Julia Greipl

Seit Wochen scheint die Sonne, unser Veedel heizt sich auf, auch nachts wird es nicht sehr viel kühler. Beliebter Nachbarschaftsplausch beim Blumengießen: morgens oder abends oder doch gleich zweimal täglich? Letzten Sommer war das so, im Sommer davor auch, vermutlich wird es im kommenden auch nicht sehr viel anders (der Grund dafür ist allerdings eine andere Geschichte). Und während man zusieht, dass die Pflanzen nicht verdursten, kommt der Obdachlose, den man schon seit Monaten im Auge hat, und wirft einen Blick in den Mülleimer neben der Bank. Ohne nachzudenken holt man schnell eine Flasche Wasser und drückt sie dem Mann in die Hand.

Was genau war es, das diesen Impuls auslöste? Hilfsbereitschaft? Angeberei vor den Nachbarn? Solidarität? Schlechtes Gewissen? Nächstenliebe? Und was bedeuten all diese Begriffe überhaupt? Auch wenn grundsätzlich Hilfeleistung eher besser als ihr Unterlassen, empfiehlt sich doch eine genauere Betrachtung.

Schlechtes Gewissen und Wichtigtuerei vor den Nachbarn kann die Verfasserin dieser Zeilen als Motivation, zu teilen, nicht ausschließen, Nächstenliebe ist ihr als Konzept fremd. Aber vielleicht kann hier der vormalige Papst Benedikt XVI. helfen, immerhin heißt seine Enzyklika von 2005 „Deus caritas est“, also in etwa „Gott ist Nächsten-Liebe“. Darin führt er aus: „Sie (Nächstenliebe) besteht ja darin, dass ich auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe.“ Bedeutet das im Umkehrschluss, dass ich eigentlich alle Menschen lieben kann – oder muss? Aber wem ist damit geholfen? Benedikt meint: „Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt.“ Hier springt also auch etwas für die Dienst-am-Nächsten-Tuende heraus. Gar nicht schlecht, aber ein bisschen viel verlangt als Gegenleistung für eine Flasche Wasser. Und es bleibt das Unwohlsein bei dem Gedanken, dass jeder jeden liebt, weil „Liebe“ damit zu beliebig wird.

Hier fühlt man sich bestätigt von Sigmund Freud, der sich vor rund 90 Jahren in „Das Unbehagen in der Kultur“ mit der „Nächsten-Liebe“ kritisch auseinandergesetzt hat: „Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not besiegen.“ Das erscheint nämlich sehr plausibel – nicht jeder Akt der Hilfe ist ein Akt der Liebe.

Aber was ist es dann, das einen spontan helfen lässt? Solidarität würde der Verfasserin als Begründung für ihr Handeln gefallen. Also mal nachgeschaut, was Papst Franziskus dazu sagt. Er findet allerdings, dass sich der Begriff Solidarität ein wenig „abgenutzt“ hat und begründet dies 2013 so in seinem „Evangelii gaudium“: Es erfordere mehr als „einige gelegentliche großherzige Taten“, nämlich eine „neue Mentalität, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt“. Und Franziskus sagt, die Solidarität sei eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums anerkennt. Denn privater Besitz rechtfertige sich nur dadurch, dem Gemeinwohl besser dienen zu können, „deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht“. Mit diesem Anspruch könnte man leben, zumal er auch die natürliche Spontaneität des Handelns sowie das Gegensatzpaar „privater Besitz – Rückgabe an Arme“ beinhaltet.

Und hier könnte man gedanklich auch gleich 235 Jahre zurückgehen und zu Immanuel Kant abbiegen – findet nicht auch er mit seiner Idee vom „Kategorischen Imperativ“, dass erst „das auf das Wohl des Nächsten bezogene, vom guten Willen gesteuerte Handeln“ ein soziales Miteinander ermöglicht? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Guter Wille! Oder vielleicht, daraus abgeleitet, Wohlwollen? Sozusagen als eine Art Vorstufe zur Nächstenliebe? Also Wohlwollen als Kompromissangebot an alle, die solidarisch sind, gerne und spontan teilen und helfen.  

Übrigens wurde das frühmorgendliche Gießen der Pflanzen und das Bereitstellen der Wasserflasche für einige Sommerwochen zur Gewohnheit. Bis die schlimmste Hitze überstanden war. Wahre Nächstenliebe sieht vermutlich anders aus, und ob die tägliche Wasserration wirklich gewollt war, wurde nie geklärt. Denn ein wichtiges Kriterium für Nächstenliebe blieb unerfüllt: Ein wirkliches Zugehen auf den Nächsten hat es nicht gegeben. Aber wenigstens war sehr viel Wohlwollen dabei.