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Was trägt uns in Zeiten der Not?

Ein Lebensentwurf befindet sich in unserem Kopf. Wir meinen zu wissen, wie unser Leben verlaufen soll. Und plötzlich sehen wir uns auf einem Spurwechsel, der nicht vorgesehen war. Wie gehen Menschen mit zerplatzten Lebensentwürfen um, und was trägt sie in Zeiten der Not?
Ausschnitt Lebensspurwechsel
Datum:
6. März 2017
Von:
Daniela Hack

Was bleibt?

Thomas Morus

Jesus als Essenz aus homosexuell-buntem Leben und Noviziat

Traditionell katholisch aufgewachsen, tätig als Ministrant und Mitglied bei den Jungschützen der katholischen Bruderschaft, stellt sich Stefan (Name geändert) in seiner geschlechtlichen Identifikation schon früh selbst in Frage. Fehlende Rollen- und Vorbilder lösen Verwirrung und Orientierungslosigkeit, bis hin zu großer emotionaler Einsamkeit in ihm aus. In einem „pseudokatholischen“ Dorfleben ist für sein Anderssein wenig Raum. Ein Coming-out ist undenkbar, weil es als sündiges Tabu weit weg vom eigenen Standesdünkel gilt. „Jeder muss gehen und seine Grenzen überschreiten“, unterstützt die fromme und freigeistige Mutter ihren Sohn bei seinemersten frühen Wechsel der Spur vom ordentlich traditionellen Katholiken zum jungen Mann mit innerer Wahrheit.

Beeinflusst durch die zentrale Botschaft von Thomas Morus, dem Schutzpatron der KJG (Katholische junge Gemeinde) zieht es Stefan nach Köln zum Zivildienst, zur Ausbildung und ins pralle Leben der Kölner Szene. Das Gefühl der absoluten Freiheit, die uneingeschränkte Akzeptanz seiner Person und das Leben einer öffentlich homosexuellen Liebe lösen endlich die lang kultivierte Vorsicht und Zurückhaltung ab! Euphorie begleitet Stefan im neuen Lebensgefühl des jungen schwulen Weltentdeckers. Eine Phase der Kirchenferne und der Neuausrichtung im gesellschaftlichen Leben folgt. Dennoch spürt er einen ständig nagenden Zweifel:

Ist das alles?

Die fehlende Tiefe kompensiert er in der Begegnung und intensiven Auseinandersetzung mit einer kirchenkritischen Agnostikerin. Die Diskussionen über Weltanschauung und ein Leben ohne jeglichen Gottesbezug strapazieren sein naives Gottesbild sehr und lassen ein inneres Glaubensgerüst bersten. Durch diesen völligen Umbruch, begleitet von einem Erstarken eines tiefen Urglaubens, gräbt er unter viel traditioneller Verschüttung eine Quelle aus, die zu sprudeln beginnt, freier als jemals zuvor. „Letztlich hat mein Geist Luft bekommen“, reflektiert Stefan. In diese Zeit des Haderns trifft ihn plötzlich eine schwere Diagnose: Krebs! Stefans Aufmerksamkeit komprimiert sich schlagartig auf sein Überleben: Operation, Chemotherapie, Bestrahlung. Erst ein Jahr später, in der Rückschau, wird ihm bewusst, was er ausgehalten und dass er überlebt hat. Stefan denkt zurück. Auch an die vielen Menschen aus der bunten Zeit vor der Diagnose. Nur wenige von ihnen sind ihm bis heute treue Wegbegleiter. Die meisten ziehen sich aus dem Dunstkreis von Krankheit und Tod zurück.

Einer aber geht die ganze Zeit mit

Das Erkennen, wie Christus, in dieser schweren Not, auch für ihn lebe, bestätigt seine innere Sehnsucht nach einem klaren Gottesbezug. Sein naives traditionelles Gottesbild formt sich zunehmend zu einem Bild eines lebendigen Jesus in ihm. Mit dieser Bestätigung für sein Leben nimmt Stefan seinen Alltag langsam wieder auf. Mit 29 Jahren findet er endlich einen seiner Lebensentwürfe verwirklicht: Job, Wohnung, Auto, Freund. Er zieht Bilanz: „Ich habe alles, was ich will. Aber irgendwie bin ich nicht zuhause.“ Die innere Sehnsucht bleibt ungestillt.

„Was glaube ich eigentlich?“ Das ist die wesentliche Frage, die Stefan umtreibt. Er findet in der spirituellen Bewegung um Richard Rohr und den geistigen Impulsen der „Queer Spirituality“ neue Ansätze für seinen Glaubensweg: Sich selbst als beschenkten Mann mit Charisma zu erfahren und damit Geschenk für die Kirche und andere zu sein, entzündet in ihm ein neues Selbstverständnis. Der Wunsch, „sein Leben vor die Füße Jesu zu legen“, wächst und zeigt sich im Besonde- ren in seinem künftigen Profess-Spruch „Brot sein und Wein“. Gleichwohl muss er erneut seine derzeitige Lebensführung prüfen und feststellen, dass das „normale Leben“ ihn nicht trägt. Angst vor Verlust, Trennung und die ungewisse Reaktion des Umfelds begleiten ihn ebenso wie Aufbruchstimmung. Stefan stellt sich seiner inneren Verantwortung und gibt der Nachfolge Jesu einen Rahmen und einen Raum. Als Anwärter für die Aufnahme ins Kloster einer Ordensgemeinschaft lernt er durch die Beglei- tung seines zuständigen Spirituals die tiefe und wahre Gottesbeziehung in sich selbst zu benennen und sich selbst ganz anzunehmen. Aus der Erinnerung zitiert Stefan ihn:

„Ein reifes sexuelles Leben reflektiere einen reifen Glauben an Gott.“

Ein tiefes Verständnis eines gewachsenen Glaubens keimt in ihm. Das Zuhause für seine Sehnsucht scheint gefunden. Doch nach drei Jahren innerhalb der geistlichen Gemeinschaft des Ordens muss Stefan für sich feststellen, dass die Communio zurückbleibt. Die ersehnte Lebensgemeinschaft empfindet er als oberflächliche Weggemeinschaft. Die Frage: „Lebe ich meine Wahrheit?“, lässt ihn erneut die Spur wechseln. Wieder Aufbruch, Widerstand, Enttäuschung und Neuausrichtung ...

Heute lebt Stefan seinen Glauben mitten unter uns in individuell geschaffenen Räumen und Netzwerken. Für Kontemplation und Communio brauche es kein Kloster, so weiß er heute. Nach seinen zahlreichen Spurwechseln schaut der 43-Jährige auf ein bewegtes Leben zurück.

Was bleibt? Jesus bleibt! Trotz oder gerade wegen der Homosexualität.